Shabaka Hutchings in tänzerisch meditativer Pose.
Shabaka Hutchings in tänzerisch meditativer Pose.
Universal Music

"Space is the Place!", hat Bandleader Sun Ra einst gepredigt. Folgerichtig wollte er, der Erfinder des spirituell angehauchten Science-Fiction-Freejazz, nach seinem Ableben zurück zu seinem Heimatplaneten Saturn reisen. Ob sein Vorhaben am 30. Mai 1993, als er nach irdischen Kriterien starb, gelang, weiß man nicht. Sicher ist: Sun Ra hat im Jazz die Attitüde des fantasievoll predigenden Visionärs kultiviert, die auch Shabaka Hutchings nicht fremd ist.

Bei Shabaka, der Name wurde von einem ägyptischen Pharao geborgt, handelt es sich um einen der erfolgreichsten Namen des aktuellen Jazz, der auch um Sprüche im Stile eines spirituellen Führers nicht verlegen ist. Der Brite hat bereits mit dem Bandnamen The Comet Is Coming für sich eine visionäre Aura gebucht, die paradox optimistisch wirkt. Der Komet würde nicht alles pulverisieren, vielmehr nach Erschaffung einer neuen Realität frische Formen der Koexistenz ermöglichen. Im Angebot des Saxofonisten war zuletzt auch die Aufforderungen, das Chaos zu umarmen.

Denken an die Coltranes

Allerdings scheint ihm selbst dies zuletzt nicht gelungen zu sein, weshalb er seinen spirituellen Weg nun gleichsam nach innen verlegte. Vom Cover seiner neuen Einspielung blickt er leicht verzweifelt herab, hält sich den Mund zu, seine Augen strahlen zerbrechliche Ratlosigkeit aus. Mittlerweile bei Impulse! unter Vertrag, legt er, wie er meint – erschöpft von Erfolg und Tourneen – das Saxofon beiseite und widmet sich auf Perceive Its Beauty, Acknowledge Its Grace fernöstlichen Flöten. Kontemplativ ist sein Spiel. Nur kurz greift er zum Saxofon, das an jene Groovemusik erinnert, über die Shabaka früher seine deftigen Stakkato-Soli legte.

So viel Verinnerlichung! Man denkt an Music for Zen Meditation, ein Album des Jazzklarinettisten Tony Scott aus 1964, das Entspannungs-, Ambient- und New-Age-Musik vorwegnahm. Man denkt aber auch an den glaubwürdigsten Vertreter der Verbindung von Jazz und Gotteshuldigung, also an Saxophonist John Coltrane, denn es sind aktuell noch weitere "Spiritalisten" des Jazz unterwegs, die sich an Coltranes Suite A Love Supreme (1965) orientieren.

Der König kommt

Beispiele? Da ist nicht nur die posthume Veröffentlichung des Carnegie Hall Concert seiner Frau Alice Coltrane, die nach dem Tod ihres Mannes in Yogi Swami Satchidananda ihren spirituellen Lehrer fand. Ganz aktuell ist da etwa Saxofonistin Lakecia Benjamin. Sie predigt virtuos Liebe und Frieden für alle und widmete sich auf Pursuance: The Coltranes dem Ehepaar John und Alice. Auch Saxofonist Isaiah Collier spielt spirituell getönten, modal angelegten ekstatischen Jazz. Auf dem Cover wirkt er wie ein afrikanischer König und untermauert den Eindruck durch den Titel seiner Einspielung Return of the Black Emperor.

Lakecia Benjamin
Lakecia Benjamin auf dem Weg ins All?
Elizabeth Leitzell

Es scheint: In spirituell angehauchten Jazz verschmelzen Sinn- und Gottsuche abseits der etablierten Weltreligionen mit der Absicht, die eigene Identität auch durch Entdeckung afrikanischer Wurzeln zu finden. Auch jemand wie US-Saxofonist Kamasi Washington beschränkt sich nicht auf Töne, die er gerne großorchestral verpackt. Sich selbst inszeniert er, als wäre er auf seiner spirituellen Reise längst bei seinem wahren Ich angekommen. Auf dem Cover von Heaven & Earth schwebt Washington der Schwerkraft entbunden überm Wasser. Kleidung? Königlich-afrikanisch, auch hier offenbar ein Hauch von Afrofuturismus. Dermaßen befreit von irdischen Naturgesetzen, definiert Washington die Wirklichkeit auch noch als Konstrukt "unseres Bewusstseins".

Geht über Wasser

Von Coltrane sind ähnliche Sätze nicht bekannt. Nach dessen Tod hat jedenfalls sein Saxofon spielendes Alter Ego Pharoah Sanders die Botschaft und den Stil weitergetragen, u. a. bei The Creator Has a Master Plan (Einspielung Karma). Und auch dessen Ableben 2022 hat offenbar den Trend nicht beendet. Es scheinen sich in den letzten Jahren Coltranes Einflüsse mit jenen von Sun Ra zu mixen und eine neue Generation von Nachahmern zu kreieren.

Reagieren sie auf die vielen Krisen und Kriege? Ist die Flucht nach innen oder das Ummanteln der eigenen Musik mit utopischen Visionen einfach ein Marketinggag? Geht es wieder mehr um die Suche nach Orientierung und Erklärung der letzten Fragen in der Epoche der Fake News? Suchen sie Geborgenheit in einer Lehre, die zu Musik wird? Wird alles mitspielen.

Was es bei Shabaka ist, muss sich jedoch noch weisen. Dazu sind seine Handlungen noch zu widersprüchlich. Sicher ist nur, dass seine Musikneuheit eine kitschig klingende Form der Selbsttherapie ist. Geschenkt. Wenn schon spirituelle Musik, dann aber bitte auf der Höhe von John Coltrane, bei dem Musik und Gebet eine ästhetisch imposante Verbindung eingingen. (Ljubisa Tosic, 22.4.2024)