Schule in Wien-Floridsdorf
Schulszene in Wien: Die Stadt fühlt sich alleingelassen – und will die anderen Bundesländer quasi zur Solidarität zwingen.
Heribert Corn

Die politischen Hilferufe aus der Stadt Wien werden lauter. Die Bundeshauptstadt könne den verstärkten Familiennachzug von Asylberechtigten "nicht mehr allein stemmen", warnten SPÖ und Neos am Montag in einer Resolution im Gemeinderat. Vor allem das Bildungssystem gerate unter Druck: Neben den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine stellen auch Minderjährige, die vor allem aus Syrien kommen, die Kindergärten und Schulen vor eine schwierige Aufgabe. Die Stadtregierung fühlt sich alleingelassen, fordert mehr Geld und Solidarität ein – in Form einer fairen Verteilung von Flüchtlingen auf die Bundesländer.

Frage: Kommen derzeit tatsächlich viele Asylwerber nach Österreich?

Antwort: Die Zahl der in Österreich gestellten Asylanträge geht so wie schon in den vergangenen Monaten zurück – dies aber von einem sehr hohen Niveau aus. Konkret wurden im ersten Quartal 2024 insgesamt 6922 Asylansuchen gestellt, das sind um fast ein Drittel weniger Anträge als im Vorjahr. Kinder zwischen null und sieben Jahren stellen mit einem Anteil von fast 33 Prozent mittlerweile die größte Gruppe. Mehr als die Hälfte der Asylansuchen kommt von Minderjährigen. Personen mit einem Schutzstatus haben sehr gute Chancen, dass das Nachholen ihrer Ehepartner, eingetragenen Partner sowie Kinder genehmigt wird. Mit 4335 Anträgen stammt der Großteil der Asylansuchen von Personen aus Syrien. Auf Afghanistan entfielen dahinter 665 Anträge.

Frage: Welches Bundesland nimmt die meisten Flüchtlinge auf?

Antwort: Das ist eindeutig Wien. Bei der Grundversorgung der Flüchtlinge erfüllt die Hauptstadt schon seit längerem als einziges Bundesland die zwischen Bund und Ländern vereinbarte Quote. Aktuell wird diese zu 197 Prozent übererfüllt. Das hat auch damit zu tun, dass Wien den bei weitem größten Anteil von aus der Ukraine vertriebenen Personen aufnimmt. In absoluten Zahlen betreut die Stadt Wien rund 32.000 Personen in Grundversorgung, davon stammen knapp 14.900 aus der Ukraine.

Frage: Kommen die anderen Länder damit ungestraft durch?

Antwort: Ja. Sanktionen haben die Länder bisher verhindert, denn im föderalistischen Österreich kann die Bundesregierung in dieser Frage nichts diktieren. Zwar gebe es schon einen Mechanismus, über den eine gewisse finanzielle Kompensation zugunsten Wiens stattfinde, räumt man in der Wiener Stadtregierung ein. Aber die Kosten für die Versorgung der Asylwerber würden damit nie und nimmer abgegolten.

Frage: Ist die Haltung der Länder der einzige Grund, warum Wien die allermeisten Flüchtlinge beherbergt?

Antwort: Nein. Ist der Asylstatus einmal anerkannt, können Flüchtlinge gehen, wohin sie wollen. Viele zieht es dorthin, wo bereits Landsleute leben und ein Stück heimatliche Kultur zu finden ist. Tatsache ist auch, dass Wien vergleichsweise großzügige Sozialleistungen zahlt, weil die rot dominierte Stadtregierung die von Schwarz-Blau verfügte Demontage der Mindestsicherung nicht mitgemacht hat. So erhalten Bezieher für jedes Kind einen Zuschlag von 312 Euro im Monat. In Niederösterreich etwa sind die Beträge nicht nur geringer, sondern auch degressiv: Fürs erste Kind gibt es 289 Euro, ab dem zweiten Kind nur mehr jeweils 231 Euro, ab dem dritten nur mehr 173 Euro. Wie stark das Niveau der Sozialleistungen tatsächlich Flüchtlinge anzieht, ist allerdings heiß umstritten.

Frage: Die Flüchtlinge tragen dazu bei, dass Wien wächst, was für das Florieren einer Stadt nicht das Schlechteste ist. Wo liegt das Problem?

Antwort: Mangels Sprachkenntnissen und Bildungsniveau können sich viele nicht selbst erhalten, zumindest nicht gleich. Im Jahr 2022 bezogen laut Integrationsbericht 77 Prozent der Syrer in Wien Sozialhilfe. Bei den Afghanen waren es 57 Prozent, bei den österreichischen Staatsbürgern hingegen nur 4,1 Prozent. Gleichzeitig leben drei Viertel aller Sozialhilfebezieher und Arbeitslosen unter den Flüchtlingen in Wien. Zu integrieren gilt es aber gerade auch die Kinder. Wer sich unter Lehrerinnen und Lehrern umhört, stößt jedoch auf eine düstere Momentaufnahme: Vielfach seien die Schulen, die vom Analphabetismus bis zu islamistischen Tendenzen eine Masse an Problemen bewältigen müssten, bereits jetzt massiv überfordert.

Eine Übersicht mit aktuellen Zahlen zum Thema Flüchtlinge und Asyl.
Im ersten Quartal wurden österreichweit knapp 7.000 Asylansuchen eingereicht. Fast jeder dritte Asylantrag war für ein Kind zwischen null und sieben Jahren.

Frage: Wie reagiert die Stadt?

Antwort: Container sollen vorübergehend als Klassenräume dienen, Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) hat eine Deutschförderungsoffensive vorgestellt, die vom Ausbau der Ganztagsschulen bis zu Sprachprogramme im Kindergarten reicht. Doch die Stadt will die anderen Länder quasi auch zu Solidarität zwingen lassen: mit einer Wohnsitzauflage.

Frage: Wie soll diese funktionieren?

Antwort: Nicht berufstätige Menschen sollen nach abgeschlossenem Asylverfahren drei Jahre lang in jenem Bundesland leben müssen, in dem ihr Verfahren absolviert wurde.

Frage: Erntet die Stadtregierung Zustimmung?

Antwort: Ja, immerhin von Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice (AMS). Geht es nach ihm, dürften Flüchtlinge nur in jenem Land Mindestsicherung beziehungsweise Sozialhilfe beziehen, in dem ihr Verfahren stattfand – was im Prinzip auf das Gleiche wie der Wiener Vorschlag hinausläuft.

Frage: Was spricht dafür?

Antwort: Abgesehen von der Entlastung Wiens auch die mutmaßlich besseren Chancen für Flüchtlinge: Mit 9,6 Prozent im Vorjahr verbucht die Hauptstadt österreichweit die mit Abstand höchste Arbeitslosenquote, in Salzburg, Tirol, Vorarlberg und Oberösterreich liegt sie hingegen nur bei drei bis vier Prozent. Umgekehrt melden in Wien die wenigsten Betriebe einen Arbeits- oder Fachkräftemangel an. Außerdem könnte eine bessere Verteilung die Bildung von Ghettos – oder je nach Wording: Parallelgesellschaften – unterbinden.

Frage: Was spricht dagegen?

Antwort: Zuallererst rechtliche Bedenken: Eine Wohnsitzauflage könnte das von der EU verbriefte Prinzip der Bewegungsfreiheit verletzen. Außerdem lässt sich dem Ghetto-Argument entgegenhalten, dass gerade die gegenseitige Unterstützung in größeren Zuwanderercommunitys dem persönlichen Aufstieg und damit der Integration diene.

Frage: Wie reagiert die Bundesregierung?

Antwort: Weitgehend ablehnend. Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) will Flüchtlingen nicht das Recht nehmen, in die für sie attraktive Hauptstadt zu ziehen. Statt einer Wohnsitzpflicht solle der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert und die Sozialhilfe bundesweit mit den gleichen Leistungen versehen werden. Die ÖVP blockt ab und beschränkt sich auf die Ankündigung, den Familiennachzug zu erschweren. Doch in der Kanzlerpartei gibt es Ausreißer. Gemeindebund-Präsident Johannes Pressl ist dafür, Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher zumindest aufgeschlossen. Der Ressortchef kennt natürlich die Arbeitsmarktdaten und sagt: "Der Vorschlag von Johannes Kopf sollte diskutiert werden." (Gerald John, David Krutzler, 22.4.2024)