Portrait Michael Herzog mit Spiegelung
Michael Herzog war lange Automatisierungstechniker. Heute arbeitet der 51-Jährige in der Wohungslosenhilfe.
Lea Sonderegger

Riesige dampfende und lärmende Hochöfen, große Maschinen, bei denen sich die Rädchen perfekt ineinander verzahnen: In dieser Kulisse spielte sich Michael Herzogs Leben lange ab. Er war Automatisierungstechniker und viel gefragt.

Er düste von einem Land zum nächsten – "nur in Amerika war ich noch nie", sagt Michael Herzog. Ein Leben in Flugzeugen und Hotels. Er beschreibt es als eine Art Rauschzustand. Immer auf Achse, meistens unter Zeitdruck. "Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, weil ich meine Leidenschaft zum Beruf machen konnte. Und obendrauf habe ich noch gut verdient", erzählt der heute 51-Jährige.

Doch eines Tages brach er mit diesem Lebensstil. Er kündigte. Es war ein Schnitt, der notwendig war und sein Leben für immer veränderte. Im Rückblick wurde ihm klar, es war ein Burn-out, gepaart mit einer Depression.

Alles anders

Heute arbeitet Michael Herzog bei der Caritas in einem Tageszentrum für obdach- und wohnungslose Menschen. Er hilft ihnen, Anträge auszufüllen, gibt Tipps und redet mit den Anwesenden. Rund 120 Personen besuchen das Zentrum pro Tag. Sie können dort essen, waschen, sich ausruhen, ein Telefon benützen und vieles mehr.

Dort ist er mit fast allen per Du. Das Sie mag er nicht. Das kreiere gleich so eine Distanz. Die könne man in diesem Beruf nicht gebrauchen. "Wenn die Klienten hören, dass auch ich einmal wohnungslos war, bricht meistens das Eis zwischen uns, und man kann auf einer ganz anderen Basis miteinander sprechen", sagt Michael.

Auch er geriet an einem Punkt in seinem Leben in einen Strudel, der ihn in eine sehr dunkle Phase zog. "Manchmal dachte ich: Das ist ein Film. Mein Leben fühlte sich an, wie eine Aneinanderreihung von Practical Jokes. Als würde mir das Schicksal immer wieder Streiche spielen", erzählt er. Nachdem er gekündigt hatte, war er noch eine Zeit lang selbstständig tätig. Doch diese Zeit war, auch aufgrund seiner Verfassung, nicht von Erfolg gekrönt.

Scham

Er gab das Arbeiten ganz auf und zog sich vollständig zurück. Brach alle sozialen Kontakte ab und verschloss sich in seiner Wohnung. Bis ihm sein angespartes Geld ausging und er deswegen aus der Wohnung flog. "Ich schämte mich so für meine Situation. Ich brachte es damals nicht übers Herz, mich beim AMS als arbeitslos zu melden. Das wäre eine Kapitulation vor mir selbst gewesen", sagt Michael.

Denn seine Arbeitsmotivation sei nie gewesen, möglichst viel Geld zu verdienen, sondern allen zu zeigen, dass er einen erfolgreichen Karriereweg meistern kann. Nach einer schwierigen Kindheit absolvierte er das Gymnasium, eine Lehre und die HTL an der Abendschule. Ehrgeiz und den Willen, sich durchzubeißen, hatte er schon immer.

"Aber jetzt im Rückblick weiß ich: Niemand braucht sich jemals dafür zu schämen, wenn man den Job oder die Wohnung verliert. Das kann wirklich jedem Menschen passieren." Was sich im Nachhinein leicht sagt, nimmt man in dem Moment ganz anders wahr, meint Michael. An einem Punkt war er sogar so verzweifelt, dass er einen Suizidversuch unternahm.

In der Folgezeit hat er auch auf der Straße und danach eine geraume Weile in Notunterkünften gelebt. Er war auch einige Zeit in einer staatlich geförderten Wohnung untergebracht – gemeinsam mit einer anderen wohnungslosen Person, die ihm zugeordnet worden war. "Das war, wie ich befürchtet hatte, auch alles andere als einfach", sagt Michael.

Es war eine dunkle Phase, doch ein Schlüsselmoment veränderte seine Sicht auf vieles plötzlich von Grund auf. Seitdem kann er sich heute nicht mehr vorstellen, in den alten Beruf zurückzukehren. Und das, obwohl er bei der Frage, ob er lieber mit Maschinen oder Menschen arbeitet, kurz zögert und nachdenkt. Der augenöffnende Moment geschah im Innenhof der Vinzi-Rast, einer Notschlafstelle für Wohnungs- und Obdachlose.

Eine bedeutende Geste

"Ich war so ziemlich am Tiefpunkt meines Lebens angekommen. Neben mir saß ein fremder Mann. Er erzählte mir plötzlich innerhalb von zehn Minuten seine gesamte Lebensgeschichte. Das berührte mich, also berichtete auch ich von meinem Leben. Und dass ich absolut kein Geld mehr hatte. Da zog er aus seiner Brusttasche 30 Euro und gab sie mir mit den Worten: 'Jetzt hast wenigstens a bissl was.' Das hat mich stark beeindruckt. Dass jemand, der auch nichts hat, einem Wildfremden eine solche Offenheit, Vertrauen und Großzügigkeit entgegenbringt – das hatte ich noch nie erlebt. Da hat es bei mir Klick gemacht."

Danach passierte ein weiterer beinahe filmreifer Moment. Eines Tages flatterte ihm auf der Straße ein Flyer vor die Füße mit der Aufschrift: "Wir suchen ehemals Wohnungslose; rufe uns an." Er griff zum Handy und war gespannt, was ihn erwartete. Die Organisation, die sich am anderen Ende meldete, war Supertramps – ein Verein, bei dem wohnungs- und obdachlose Menschen durch Wien führen und dabei ihre Lebensgeschichte, den Alltag und die Institutionen und Anlaufstellen zeigen und darüber berichten.

Michael blickt in den Spiegel.
In der Reflexion, sagt Michael, komme es ihm vor, als würde ihm das Leben Streiche spielen.
Lea Sonderegger

"Ich denke jetzt zum ersten Mal wirklich drüber nach. Ich musste selbst eine Tour zusammenstellen, Termine einhalten und Aufgaben erfüllen. So gewann ich wieder Sinn und Struktur in meinem Leben. Das half mir sehr, meine eigene Vergangenheit aufzuarbeiten und wieder Fuß zu fassen", erzählt er.

Rund 250 Touren gab Michael. Als engagierter Tourguide wurde er unter anderem vom ORF für eine Sendung über die Führung interviewt. Den Film sah zufällig eine alte Bekannte. Sie kontaktierte den Sender. Dieser leitete die Anfrage weiter, und über drei Ecken entstand wieder der erste Kontakt mit Michaels Freunden und seiner Familie. "Das war wirklich ein großer Zufall und hat mich sehr gefreut."

Ausbildung zum Peer

Über eine Kollegin bei Supertramps erfuhr er in diesem Zeitraum auch von der Ausbildung der Sozialeinrichtung Neunerhaus zum Peer. Die Idee ist, dass Menschen mit einer ähnlichen Vergangenheit durch diese kostenlose Ausbildung als Peer, also als Ansprechperson in diesem Bereich tätig sind, und so auch wieder im Arbeitsleben Fuß fassen können.

Die Vorstellung, wieder ins Arbeitsleben einzusteigen, lag für Michael nach seiner Kündigung in weiter Ferne. Denn im Lebenslauf gibt es diese Lücke. "Welcher Arbeitgeber stellt einen dann noch ein, wenn er hört, dass man zu der Zeit nicht nur arbeits-, sondern auch wohnungslos war? Es fühlt sich an, als wäre man für den Rest des Lebens gebrandmarkt."

Gerade deshalb gibt das Ausbildungsprogramm den angehenden Peers auch wieder eine berufliche Perspektive. Einen fixen Job hat man dadurch noch nicht automatisch. "Ich habe nach der Ausbildung sofort einen Job gefunden. Bei der Caritas im Tageszentrum, bei der ich noch heute arbeite", erzählt Michael.

In dem siebenmonatigen Kurs lernen die angehenden Peers viel über Gesprächsführung, zwischenmenschliche Kommunikation, psychische Gesundheit, Sucht und vieles mehr. Reflexion und 127 Stunden Praktikum gehören ebenfalls dazu. Das Programm besteht seit 2017. Seitdem haben schon knapp hundert Personen den Kurs absolviert.

Michael Herzog geht durch das Büro des neunerhauses
Bald wird Michael Herzog selbst zum Ausbildner für angehende Peers.
Lea Sonderegger

Nächster Schritt

Ab Mai beginnt für Michael ein neuer Abschnitt. Er wird Ausbildner für Peers beim Neunerhaus. Dass er einmal im sozialen Bereich tätig sein wird, hätte er nie gedacht. Sowohl durch diese Ausbildung als auch bei der Arbeit bei den Supertramps, sagt Michael, habe er etwas ganz Neues über sich gelernt: "Ich wusste nicht, dass ich so eine starke soziale Ader habe. Das hat mich selbst positiv überrascht." (Natascha Ickert, 22.4.2024)