Wie schon die uralte chinesische Vorstellung von Yin und Yang beweist, haben wir Menschen die Tendenz, in der Welt, die uns umgibt, Muster aus miteinander verbundenen Gegensätzen zu sehen. Diese Vorliebe hat verschiedene Theorien hervorgebracht, nach denen soziale und wirtschaftliche Phänomene natürliche Zyklen durchlaufen. Der große arabische Philosoph Ibn Chaldun meinte im Aufstieg eines Reiches bereits den Weg seines späteren Zerfalls zu erkennen. Im 20. Jahrhundert postulierte der Wirtschaftswissenschafter Nikolai Kondratjew, die moderne Weltwirtschaft bewege sich in "langwelligen" Superzyklen.

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Wie kann man den technischen Wandel steuern? Welches Potenzial hat "schöpferische Zerstörung"?
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Der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter machte die verallgemeinerte Version des Arguments bekannt, nach der immerzu neue Innovationen die bis dahin vorherrschenden Technologien ersetzen und ältere Industriegiganten zu Fall bringen. Viele Sozialwissenschafterinnen und Sozialwissenschafter nutzen Schumpeters Idee der "schöpferischen Zerstörung", um Innovationsprozesse und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes zu beschreiben. Ihre Analysen haben aber auch die in diesem Konzept inhärente Spannung offengelegt. Erzeugt die Zerstörung eine schöpferische Kraft, oder ist sie selbst deren unvermeidliche Nebenwirkung? Oder genauer gesagt: Ist Zerstörung immer unvermeidlich?

Zwei verwandte Entwicklungen haben den Begriff der schöpferischen Zerstörung noch einmal auf eine neue Ebene katapultiert. Die erste war der überwältigende Erfolg des Buches The Innovator’s Dilemma des Harvard-Professors Clayton Christensen 1997, in dem er die Idee der "disruptiven Innovation" einführt. Disruptive Innovationen entstehen in neuen Unternehmen, deren Geschäftsmodelle von den etablierten Marktführern als unattraktiv verworfen wurden, oft weil sie nur die unteren Marktsegmente ansprechen. Weil Letztere meist an ihrem eigenen Geschäftsmodell festhalten, verpassen sie "die nächste große Technologiewelle".

"Heute ist Künstliche Intelligenz mit noch mehr Hoffnung befrachtet als Facebook in seinen Anfangsjahren."

Der zweite Trend war der Aufstieg des Silicon Valley, wo "Disruption" von Anfang an Teil der Strategie der Techunternehmen war. Google wollte das Geschäft der Internetsuchmaschinen aus den Fugen heben, Amazon das Geschäft der Buchläden und später der meisten anderen Einzelhändler. Dann kam Facebook mit seinem Mantra "move fast and break things". Die sozialen Medien haben auf einen Schlag unsere sozialen Beziehungen verändert und die Art, wie wir kommunizieren. Sie verkörpern gleichermaßen schöpferische Zerstörung und Umbruch.

Heute ist Künstliche Intelligenz (KI) mit noch mehr Hoffnung befrachtet als Facebook in seinen Anfangsjahren. Deshalb täten wir gut daran, diese Ideen neu zu bewerten. Natürlich ist Innovation manchmal von Natur aus ein Störfaktor, und der Schöpfungsprozess kann so zerstörerisch sein, wie Schumpeter ihn sich vorgestellt hat. Die Geschichte zeigt, dass kompromissloser Widerstand gegen schöpferische Zerstörung zu wirtschaftlichem Stillstand führt. Daraus folgt allerdings nicht, dass man Zerstörung feiern sollte. Stattdessen sollten wir sie als Kosten sehen, die häufig abgemildert werden können. Zum Beispiel durch die Schaffung besserer Institutionen, die den Verliererinnen und Verlierern helfen. Und manchmal, indem wir den technologischen Wandel steuern.

Enormes Potenzial

Mit Blick auf die Zukunft sollten wir uns – insbesondere in Bezug auf KI – von drei Grundsätzen leiten lassen. Erstens müssen wir, wie bei der Globalisierung, unbedingt denen helfen, die unter den negativen Auswirkungen leiden, und zwar nicht erst dann, wenn es zu spät ist.

Zweitens sollten wir nicht voraussetzen, dass Zerstörung unvermeidlich ist. KI muss nicht zur massenhaften Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Wenn bei ihrer Entwicklung und Nutzung Automatisierung das einzige Ziel ist – wie es viele Giganten im Silicon Valley wollen –, wird die Technologie das Elend der arbeitenden Bevölkerung nur vergrößern. Es gibt aber andere und bessere Wege. Schließlich hat KI ein enormes Potenzial, die Produktivität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erhöhen, indem sie ihnen bessere Informationen liefert und bei komplexeren Aufgaben unterstützt.

Der Kult der schöpferischen Zerstörung darf uns nicht blind machen für diese besseren Alternativen. Wenn der Markt die innovative Energie nicht in eine für die Gesellschaft günstige Richtung lenkt, müssen Regulierung und demokratische Prozesse sie umleiten. Viele Länder haben bereits Subventionen eingeführt, die Innovationen im Bereich erneuerbare Energien belohnen. Mit ähnlichen Initiativen könnten sie die Schäden durch KI und andere digitale Technologien in Grenzen halten.

Ungeplante Konsequenzen

Drittens dürfen wir nicht vergessen, dass unsere bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse äußerst komplex sind. Werden sie gestört, kann dies zu allen möglichen ungeplanten Konsequenzen führen. Facebook und andere soziale Medien hatten nicht vor, unseren öffentlichen Diskurs mit Extremismus und Falschmeldungen zu vergiften und ihre Nutzerinnen und Nutzer süchtig zu machen. Aber weil sie unsere Kommunikationsgewohnheiten so schnell wie möglich umkrempeln wollten, folgten sie ihrem eigenen Grundsatz: schnell handeln und später um Verzeihung bitten.

Wir müssen unbedingt genauer prüfen, wie die nächste Welle disruptiver Innovationen unsere sozialen, demokratischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen beeinflussen könnte. Um das volle Potenzial schöpferischer Zerstörung zu nutzen, braucht es das richtige Gleichgewicht zwischen innovationsfreundlichen Regeln und demokratischer Beteiligung. Wenn wir den Schutz unserer Institutionen den Techkonzernen überlassen, bekommen wir womöglich mehr Zerstörung, als uns lieb ist. (Daron Acemoğlu, Copyright: Project Syndicate, 16.4.2024)