Schwarz-weiß-Portrait von Corita Kent
Corita Kent im Jahr 1970.
Corita c. 1970. Courtesy of the Corita Art Center Los Angeles and kaufmann repetto Milan / New York and Andrew Kreps New York.

Was einmal eine US-amerikanische Flagge war, ist jetzt knallige Pop-Art. Rot, Weiß und Blau haben sich aus den Sternen und Streifen gelöst und fließen zu einem neuen Hintergrund zusammen. Dicke Lettern darüber fordern: "Stoppt das Bombardement!" Es ist 1967, und auf US-amerikanischen Straßen protestieren junge Menschen gegen den Vietnamkrieg. Sie träumen von einer neuen Gesellschaft, die auf Toleranz, Liebe und Frieden baut. Der bunte Siebdruck passt perfekt in diese Zeit. Doch die Künstlerin dahinter ist eine kleine Frau im schwarz-weißen Habit, die ihr Haar sorgfältig unter einem Kopftuch verbirgt. Sie heißt Corita Kent und ist Ordensfrau im katholischen Konvent der Sisters of the Immaculate Heart of Mary in Los Angeles.

Von klein auf liebt Corita Kent zwei Dinge: Gott und die Kunst. Nach ihrem Schulabschluss tritt sie mit nur 18 Jahren ins Kloster ein. Sie wählt die Sisters of the Immaculate Heart, einen kalifornischen Schulorden, in dem Bildung und Kreativität von großer Bedeutung sind. Aus der jugendlichen Frances Kent wird so Schwester Mary Corita.

Die Nonne und ihre "Zehn Regeln"

Als junge Nonne schließt sie zwei Studien ab, darunter ein Masterstudium in Kunstgeschichte. In dieser Zeit entdeckt sie den Siebdruck für sich. Corita will sich als Ordensfrau nicht aus der Welt zurückziehen, sondern mitten in sie hinein gehen. Ihr Glaube ist zum Teilen da. Und Siebdruck ist dafür das perfekte Medium: günstig, reproduzierbar, zugänglich – und demokratisch.

Coritas erster Siebdruck ist ein tief religiöses Werk. In seiner Mitte hält eine gekrönte Maria den kleinen Jesus auf dem Schoß. Rundum reihen sich dicht an dicht biblische Szenen. Sie sind in gedecktem Rosa, Braun und Blau gehalten, durchbrochen von grellgelben Lichtflecken. Corita nennt den Druck "The Lord Is With Thee", der Herr ist mit dir, und gewinnt damit zwei Kunstpreise.

Siebdruck in Magenta und Orange
Der Siebdruck "Yes People Like Us" aus dem Jahr 1965.
yes people like us, 1965, serigraph, 35 x 28 ¾ inches, image courtesy of the Corita Art Center Los Angeles and kaufmann repetto Milan / New York and Andrew Kreps New York

Ihr Orden betreibt in Los Angeles das Immaculate Heart College, eine kleine Hochschule mit exzellentem Ruf. Kunst bestimmt hier das Curriculum, und Corita wird als Lehrkraft an die Fakultät berufen. Zwischen den Studierenden blüht sie auf. Sie lässt sie als Übung binnen eines Tages hunderte Zeichnungen anfertigen oder schickt sie hinaus auf die Straßen von Los Angeles, wo sie im Alltäglichen besondere Ausschnitte entdecken sollen. Corita will ihre Augen schulen und ihre Sinne schärfen. Bald pilgert die kalifornische Kunstszene ans College, um von der Nonne mit den unkonventionellen Unterrichtsmethoden zu lernen. In dieser Zeit formuliert Corita Kent ihre "Ten Rules" – heute legendäre Regeln zum kreativen Arbeiten. Darunter etwa: "Regel vier: Betrachte alles als ein Experiment." Oder: "Regel acht: Versuche nicht, etwas zu kreieren und es gleichzeitig zu analysieren. Das sind verschiedene Prozesse."

Der Alltag, ein buntes Evangelium

Im Jahr 1962 ändert sich alles. Da betritt Corita Kent eine Galerie und sieht zum ersten Mal die ikonischen Suppendosen von Andy Warhol. Immer schon hat sie daran geglaubt, dass das Heilige draußen in der Welt zu finden ist. Jetzt sieht sie es zum ersten Mal auch aus Alltagsgegenständen leuchten. Von da an schafft Kent aus den Bruchstücken des Alltags ein buntes Evangelium. Sie nimmt die Logos, Slogans und Schriftzüge bekannter Marken, zerlegt sie und setzt sie neu zusammen. Aus einer Reklame für schnödes Schnittbrot wird so ein Kunstwerk, das globale Hungersnöte und das biblische Wunder der Brotvermehrung zusammenbringt.

Der Papst wird auf einem Thron durch eine Menschenmenge getragen
Papst Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils.
AP

Doch nicht nur ihre Kunst verändert sich in diesem Jahr, sondern auch die gesamte katholische Kirche. Papst Johannes XXIII. beruft das Zweite Vatikanische Konzil ein. Tausende Kirchenmänner versammeln sich, um die katholische Kirche an die moderne Zeit anzupassen. Drei Jahre dauert das Konzil an. Danach werden Messen nicht mehr in Latein abgehalten, Priester drehen der Gemeinde nicht mehr den Rücken zu. Auch die Rolle der Frauen in der Kirche wird erstmals anerkannt. Der Ruf nach Erneuerung erreicht auch die Sisters of the Immaculate Heart im Süden Kaliforniens.

Corita muss die Welt nicht mehr aufsuchen, sie bricht bunt und überwältigend durch die Fenster ihres Ateliers herein. Die Bürgerrechtsbewegung fordert das Land auf, sich selbst ins Gesicht zu sehen, in Südkalifornien erblüht die Hippiebewegung, die Proteste gegen den Vietnamkrieg intensivieren sich, und selbst in der Kirche bleibt nichts, wie es war. In dieser Zeit übernimmt Corita die Leitung der Kunstfakultät – und ihre eigene Arbeit nimmt die nächste große Wendung.

Die widerspenstigen Schwestern

Im Sommer 1965 kocht der Süden von Los Angeles über. Schwarze Menschen wehren sich gegen Repressalien der Polizei, es kommt zu heftigen Ausschreitungen. Corita schneidet einen rassistischen Bericht darüber aus der Zeitung, taucht ihn in leuchtend rote Farbe und setzt ein Gedicht darüber. Es handelt von Christus als Rebell. Es ist ihr erstes politisches Werk und das erste von vielen seiner Art. Von Corita Kents Werkbank flattern Drucke, die den Vietnamkrieg kritisieren, Rassismus anprangern, Frieden und Toleranz fordern. Sie machen sie über die Grenzen Kaliforniens hinaus prominent – und in den Augen der Diözese zu einem Problem.

James Francis McIntyre, der Erzbischof von Los Angeles, hat ein persönliches Problem mit Corita Kent – und ihrem gesamten Orden. Er lehnt die Reformen ab, die die Schwestern inspiriert vom Konzil für sich erarbeitet haben. Corita nennt er "lästig", ihre Kunst "blasphemisch". McIntyre lässt alle Schwestern des Ordens, die in Schulen der Diözese unterrichten, von ihren Posten entfernen. Entweder unterlassen die Sisters of the Immaculate Heart ihre geplanten Reformen, oder sie können sich von ihren Ordensgelübden befreien lassen. Dazwischen gibt es nichts. 315 der 380 Schwestern verlassen daraufhin den Orden. Unter ihnen ist auch Corita.

Siebdruck in Gelb, Dunkelgrün, Magenta und Rot
Der Siebdruck "Life–New Life" aus dem Jahr 1967.
life-new life, 1966, serigraph, 28 x 25 inches, image courtesy of the Corita Art Center Los Angeles and kaufmann repetto Milan / New York and Andrew Kreps New York

Erschöpft kehrt sie Kalifornien den Rücken und nimmt sich eine kleine Wohnung in Boston. Hier lebt Corita Kent mit 52 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben alleine. In den folgenden Jahren erhält sie ihre größten Aufträge – und eine Krebsdiagnose. Sie entwirft eine ikonische Briefmarke für die US-amerikanische Post. Eines ihrer Designs ziert einen riesigen Gastank in Boston und wird zum größten unter Copyright stehenden Kunstwerk der Welt.

Kent ist keine Ordensfrau mehr, doch Glaube, Liebe und Hoffnung durchtränken weiterhin ihre Arbeit. Auch als der Krebs zurückkommt und auch, als er bleibt. Im Spätsommer 1986 verstirbt Corita Kent mit nur 67 Jahren. Ihre früheren Mitschwestern haben da schon die Immaculate Heart Community gegründet – eine Non-Profit-Organisation, in der sie ihre Arbeit weiterführen. Sie sind nun bloß kein Orden mehr, sondern eine Laiengemeinschaft. Corita vermacht ihnen ihr Lebenswerk. Ihr zu Ehren gründet die Gemeinschaft das Corita Art Center, in dem bis heute Kents Vermächtnis gehütet und verwaltet wird. Ab April dieses Jahres sind einige ihrer Werke im vatikanischen Pavillon auf der Biennale von Venedig zu sehen. (Ricarda Opis, 12.4.2024)