Im Grunde war der Maoismus von Anfang an eine literarische Legende. Kreiert von einem Amerikaner, einem Journalisten, der auf der Suche nach einem "scoop" war, einer Spitzenstory, die ihn bekanntmachen sollte. Und ihm genug Geld verschaffte, dass er Schulden abbezahlen konnte.

Dieser Reporter hieß Edgar Snow. 1905 in Kansas City, Missouri, USA, geboren, lebte er in den 1930er-Jahren in Peking. Sein Sensationsbuch trug den Namen Red Star over China, zu Deutsch Roter Stern über China, und war eine Generation lang ein globaler Bestseller. Beeinflusste hohe Staatsbeamte in Washington, D.C., ebenso wie Kämpfer im Dschungel von Kambodscha, Freiheitskämpfer in Peru und Tansania wie Studenten in Hörsälen zwischen Paris und Berkeley.

"Andy Warhol, Mao Tse-tung", 1972 Siebdruck Andy Warhol.
Albertina Wien / The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Bildrecht, Wien 2023

Dieses Buch war das erste buchlange Porträt eines chinesischen Kommunisten namens Mao Zedong, der im abgelegenen Yan’an mit einer Truppe von 8000 Partisanen ausharrte, wohin sich seine von der regulären chinesischen Armee gehetzte Soldateska infolge des sogenannten Langen Marsches gerettet hatte.

Zehn Jahre später hatte Mao ganz China erobert. Und installierte den Maoismus als Staatsreligion. Der, wie man heute weiß, eingebettete und vom diplomatisch äußerst geschmeidigen, charmanten Zhou Enlai, der sich fast 50 Jahre an Maos Seite hielt, sorgsam manipulierte Snow hatte gute Dienste für enthemmte Idolatrie, eine Heroenverehrung, geleistet, die weltweite Ausmaße annahm.

Vom Jangtse bis Lima

An einer Weltgeschichte des Maoismus hat sich bis zum Jahr 2019 niemand versucht. Aus gutem Grund. Und: wie auch? – Denn: welch’ vermessenes, immens komplexes Globalthema!

Aber ebendies reizte Julia Lovell, Professorin für Moderne Chinesische Geschichte und Literatur am Birkbeck College der University of London, Autorin einer feinen Monografie über Opiumhandel und Opiumkriege und Übersetzerin, etwa von Lu Xun, dem vielleicht wichtigsten chinesischen Autor vor der Revolution von 1949.

Julia Lovell, "Maoismus. Eine Weltgeschichte". Übersetzt von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. € 43,20 / 768 Seiten. Suhrkamp- Verlag, 2023
Suhrkamp

Um es gleich zu sagen: Ihre Weltgeschichte des Maoismus lohnt die Lektüre, ist instruktiv, weitgespannt, kundig, detailliert, dabei gut zu lesen.

Der Bogen spannt sich von Beijing über Sambia nach San Francisco, von Kambodscha über Paris nach Brixton, einem der ärmsten Stadtbezirke Londons, weiter nach Lima bis nach Kathmandu. Das macht die Darstellung so interessant. Wie fundamental erhellend.

Im Grunde ist dies eine Studie über Verblendung und Verschleierung. Verschleierung der chinesischen Kommunisten um Mao Zedong, ihres zynisch-machiavellistischen Machtstrebens und ihrer jedes Maß sprengenden Unmenschlichkeit – merkwürdig, dass sowohl der "Große Sprung nach vorn" wie die Hochzeit der Kulturrevolution von 1966 bis 1968 von Lovell merkwürdig verschattet skizziert werden, kosteten doch beide geschätzt 50 Millionen Menschen das Leben. Während der sexbesessene Mao beides anstieß und brutal durchzog, um – erfolgreich – innerparteiliche Kritiker kaltzustellen oder zu beseitigen. Das Muster ging zurück aufs Jahr 1931 und Maos allererste "Säuberungen" innerhalb der winzigen KPCh. Intellektuelle waren dabei immer schon Maos Lieblingsziel, weil er selbst nur halbgebildet war und sich stets unterlegen fühlte.

Massenmörder und Pop-Ikone

Das Verblüffende an Mao war: Zur selben Zeit war er allmächtiger Vorsitzender, der zur permanenten Revolution und Zerstörung der Partei aufrief, in einem Atemzug verkündete er in simpler Sprache, dem Willen der "Massen" sei zu folgen – doch einzig die Kommunistische Partei könne den Massenwillen filtrieren, kondensieren und den Massen wieder neu zuführen.

Einzigartig im 20. Jahrhundert war, dass ein Multimillionen-Massenmörder zur popkulturellen Ikone wurde, als Poster an die Wand gepickt wurde, sein Kopf Buttons zierte, der Mao-Anzug fashionabel wurde – eine stupende psychologische Verblendung.

Pure Romantik

Mit fortschreitender Kapitelzahl wird Lovells Buch immer besser und ihr Ton immer schärfer. Eminent ihre Darstellung der Khmer Rouge Pol Pots in Kambodscha und des Leuchtenden Pfads in Peru. Noch aufschlussreicher ist ihr Porträt des totalitären Chinas von Xi Jinping von heute und dessen Propagandajonglade mit maoistischen Versatzstücken für morgen.

In Nepal übernahm 2006 eine maoistische Partei Regierungsverantwortung. Dort war, Lovell führt dies gründlich vor, der Maoismus ein literarisch-intellektuelles Phänomen. Fast niemand der Maoisten sprach Chinesisch. Ihr Mao-Kult? Pure Romantik. (Alexander Kluy, 14.4.2024)