Autor Andreas Okopenko (1930-2010), ein gelernter Chemiker, legte im Roman
Autor Andreas Okopenko (1930–2010), ein gelernter Chemiker, legte im Roman "Kindernazi" auf analytische Weise Rechenschaft ab: Er registrierte Spuren seiner Kindheit unter nationalsozialistischer Herrschaft.
BARBARA GINDL / APA / picturedes

Das Ende ist schrecklich, dabei bildet es nur den Auftakt zum Roman Kindernazi. Wien, die Perle der Ostmark, ist von den Nazis zur Frontstadt erklärt worden. Aus dem Radio – ein Prachtexemplar "mit fünf Rohren" – plärrt die Nachricht vom Fall Wiener Neustadts.

Man schreibt den 1. April 1945. Der Vater des 15-jährigen Anatol bittet seinen Sohn, ein blitzgescheites, hochsensibles Kind mit Astronomie-Marotten, zur Lagebesprechung. "Polsterbankpapa" ist Mediziner. Er stammt aus der Ukraine. Am Wiener Steinhof, wo er als Flüchtling die Arztstelle bekleidet, hält er die Hand schützend über "Ostarbeiter".

Bereits die erste Episode in Andreas Okopenkos Kindernazi markiert die schwindelerregende Ambivalenz einer Kindheit in Hitlerdeutschland. Verwirrender noch: Der Leser ist nach der Lektüre des Buches geneigt, Anatols Jahre als völkisch indoktrinierter Pimpf, trotz Erkrankungen und Anlässen zu melancholischer Verstimmung, eine "glückliche" zu nennen.

Der flammende Vaterappell richtet sich an den treudeutschen Buben. Die Niederlage der Nazis ist mit Händen zu greifen. "Heute darfst du noch ein Nazi sein, sagt Papa, und weinen über euern Zusammenbruch." Der Bub ringt um Fassung: "Ein Kindernazi, sagt Anatol zornig und weint wieder los."

Geschärfte Linse

Wer nun denkt, Anatol – oder "Tolko", oder "Antschi" – wäre grundsätzlich zu nah am Wasser gebaut, verfehlt den Charakter des Buches. Dieses ist aus Erinnerungssplittern gebaut. Im Sinne der erlebten Vergangenheit glitzern Proben fokussierter Wahrnehmung. Es ist, als hätte Okopenko (1930–2010), der gelernte Industriechemiker, die Linse nachträglich geschärft.

Er, ein Virtuose der Wahrnehmung, registriert das "Fetzendumpf" eines grauen Tafeltuchs. Er evoziert einen "Maisgrieß mit Zimtzucker". Man meint, die Kraftnahrung anstelle der Figur zu löffeln. Okopenko verstand sich wie kein Zweiter auf das Wachrufen komplexer Sinneseindrücke. Kein einziges Mal behelligt der Autor sein kindliches Alter Ego mit Besserwisserei.

"AOk", wie das Kürzel des Dichters lautete, besetzt unter allen Größen der Nachkriegsliteratur die Stelle des Naturwissenschafters. In seinen Gedichten und Erzählungen, in den gefinkelt montierten Romanen und "Berichten von außerordentlichen Erlebnisarten" findet eine Synthese statt. Okopenko, der still-vergnügte Wenigschreiber aus Wien-Floridsdorf, söhnte den Labortechniker in sich mit dem sentimentalen Alltagsmenschen aus.

Als Kindernazi 1981 zum ersten Mal erschien, regte sich der Wunsch, die Nazi-Vergangenheit so vieler Österreicher aufzuarbeiten, wenig. Okopenko griff zur Rekonstruktion seiner Kindheit auf Tagebücher zurück. Er montierte 62 Episoden zu einem Bericht zusammen – den Zeitpfeil richtete er zurück in die Vergangenheit.

Viele Trillerpfiffe

Der Effekt ist verblüffend. Klein-Anatol ist in der Obhut der Nazi-Erzieher von Kindesbeinen an "gut aufgehoben". Es wird viel "trillergepfiffen" in den Schulhöfen, auf den Verschickungslagern, vor den Krankensälen in der Hohen Tatra, wo man die Kinder päppelt und völkisch indoktriniert. In einem solchen Spital kuriert "Tolko", ohnehin schmächtig von Statur, schlimme Masern aus.

Man muss sich die reichsdeutsche Kindheit als behütete vorstellen. Mit der unentwegten Erfassung und Mobilisierung seiner "Volksgenossen" wickelt der NS-Staat ein unsichtbares Band der Zusammengehörigkeit um alle, die er rassistisch gelten lässt. Anatol bejaht zutiefst, was er nicht anders kennt: Er sagt Ja zur antisemitischen Propaganda. Er duldet die Spuren handgreiflicher Gewalt, die vor ihm, dem Wissenschafts-"Nerd", keineswegs Halt macht. Das Verbrecherregime gewährt Schwächeren Unterschlupf, wenn diese der "rassischen" Norm entsprechen. Es ist diese vermeintliche Wärme, die Okopenko rekonstruiert.

Kindernazi gehört zu den Grundbüchern der Zweiten Republik. Der Roman wurde jetzt, mustergültig kommentiert, wieder aufgelegt und gehört in eine Überlieferungsreihe mit Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen. Beider Bücher Fazit lautet: Die nationalsozialistische Machtausübung gründete auf der Zustimmung gerade der Jüngsten. Wer das Erstarken rechtsextremer Ideologie heute kritisiert, kommt um eine Analyse ihrer Sinnangebote kaum herum. (Ronald Pohl, 13.4.2024)