Zu Beginn des 18. Jahrhunderts zirkulierte in Deutschland eine periodische Flugschrift mit dem Namen Der Europäische Niemand. Darin schrieb ein anonymer Verfasser "von neuen und alten Staats-Angelegenheiten", in der Absicht, "Niemanden zu beleidigen, Jederman aber nützlich zu seyn". Die europäische Perspektive, die diese Schrift reflektiert, ist beachtlich, denkt man nur an all die dynastischen Konflikte dieser Zeit.

"Der Nationalismus hat keine Zukunft. Aber er kann die vorläufige zerstören", schreibt Robert Menasse in seinem Langessay "Die Welt von morgen".
IMAGO/Alexander Limbach

Robert Menasse hat sich diesen "Europäischen Niemand" zum Ausgang seines Essays gemacht und würde ihn gerne zu einem "Europäischen Jedermann" von heute gestalten, einen europäisch denkenden Zeitgenossen, den es damals noch lange nicht gab – ihm musste, so Menasse, erst "europäischer Nutzen offeriert" werden, zuallererst Informationen, "die seinen Vorurteilen, seiner beschränkten Weltsicht, seinen ideologischen Verblendungen widersprechen". Es sollte noch 250 Jahre dauern, bis sich europäische Aufklärung und europäische Vernunft durchsetzen konnten. Aber sind wir wirklich schon so weit?

Die Vorstellung "von einem friedlichen, sozialen Europa, das in kultureller Vielfalt verbunden ist", hat immer noch mehr von Träumerei und Utopie an sich als von politischer Wirklichkeit. Andererseits bräuchte es nicht einen neuen Traum, freilich mit politischer Durchschlagskraft? Denn woran es im Augenblick mangelt, so Menasse, sind "die jetzt fälligen und notwendigen Schritte der europäischen Einigung". Und die werde derzeit eher blockiert als vorangetrieben.

Mutige Vorausschau

Menasse, der im Juni seinen 70. Geburtstag begeht, der also geboren wurde, als sich in Europa eine "Gemeinschaft" gerade zu bilden begann, setzt sich seit ungefähr 20 Jahren, als Romancier wie Essayist, intensiv mit der Idee und Institution Europa auseinander. Gibt man auf Google die Begriffe "Robert Menasse" und "Europa" ein, so erhält man als ersten Treffer den Buchhinweis Glaube an Europa und ein Bild, das den Autor bei einer "Predigt" (sic!) im Aachener Dom am 30. Mai 2023 zeigt.

Glaube an Europa: Robert Menasse.
Heribert Corn

In einer Predigt wird den Menschen gerne ins Gewissen geredet, bis hin zum Aufruf: Kehrt um! Wenn Menasse nun in seinem neuen Buch fordert, Europa müsse sich ändern, dann meint das keine Abkehr von "Brüssel", sondern den Ruf nach einer europäischen Verfassung. Den ließ Menasse schon 2017 mit seinem Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik ertönen, eine Forderung, die eigentlich Debattengrundlage jeder Staatskanzlei sein sollte und nicht Zukunftsmusik, die man zu den Akten legt.

Menasse ist – ohne eine Phrase zu bemühen – glühender Europäer, wie es einst Stefan Zweig war. Dessen letztes Werk, Die Welt von Gestern, widmete sich jenem europäischen Geist, der im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen zerstört wurde. Menasse zitiert den Europäer Zweig und nennt seinen Ausblick auf Europa ganz bewusst Die Welt von morgen: Nicht wehmütiger Rückblick ist darin angesagt, sondern mutige Vorausschau, die angesichts des stockenden Fortschreitens des Projekts Europa umso notwendiger ist.

Dabei geht es nicht nur um rechte EU-Kritiker. Menasse bemängelt, dass die zeitgenössischen europäischen Autoren, die so viel über Globalisierung und Postkolonialismus schreiben, dem Transformationsprozess Europa keine Achtung schenken. Dass auch EU-kritische Linke sich ein schwaches, anti-westliches Europa wünschen, hat nicht zuletzt mit dem dummen Narrativ zu tun, nach 1989 hätte gleichsam eine feindliche Übernahme der Staaten des ehemaligen Ostblocks in die EU stattgefunden. "Die sogenannte Osterweiterung", hält Menasse klar dagegen, "war in Wahrheit eine Westerweiterung im Osten", schließlich haben sich die Menschen dort entschieden, in einem freien, geeinten Europa leben zu wollen.

Im Diskurs der Linken wie Rechten aber ist die Rede vom alles aufsaugenden "Moloch Brüssel" nicht gerade enden wollend. "Kritisch-Sein", so Menasse, sei zum "gesellschaftlichen Fetisch" geworden, als ginge es mehr darum, die selbstgerechte Haltung des "kritischen Bürgers" zu demonstrieren, als sich auf Argumente und ein "gemeinsames Fundament" zu berufen. Nicht zuletzt haben sich einzelne Regierungen gut darauf eingerichtet, die EU im Positiven wie Negativen für ihre eigenen Zwecke zu nützen: "Manchmal, an Sonntagen, erscheint ‚Brüssel‘ als eine transzendente Macht, an die Fürbitten gerichtet werden, aber während der Woche, im politischen Alltag, als eine Bedrohung, der gegenüber sich Staats- und Regierungschefs aufblähen mit der Beteuerung: Wir lassen uns nicht verschlucken!"

Nachnationales Europa

War es nach 1945 ein Gebot der Stunde, ein "nachnationales Europa" auf den Weg zu bringen, sah man sich später mit der Globalisierung einer viel schnelleren Entwicklung gegenüber. Menasse nennt sie eine "List der Vernunft", die alle Europa-Skeptiker überzeugen müsste, denn ihrer Unaufhaltsamkeit und den sich daraus ergebenden Krisen könne eine nationale Politik kaum etwas entgegensetzen. Doch die Vorteile europäischer Gemeinschaftspolitik werden nicht erkannt, weil immer noch der nationale Schrebergarten, in dem Staatschefs ihre Wahlerfolge feiern können, näher liegt.

Statt die Idee des Verbindenden weiterzuentwickeln, sehen sich populistische Politiker geradezu bemüßigt, sich von der EU als "Elitenprojekt" zu distanzieren. Vor allem aber fehle es der EU selbst an Fantasie, um im Augenblick mehr als bloß die Verwaltung des Stillstands regeln zu können, ja ihre Vertreter würden nicht einmal mehr die Fantasie der Gründergeneration begreifen. Gleichwohl sind sie politische Fantasten, die zu Hause ihren Wählern die Renationalisierung versprechen.

Robert Menasse, "Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde". € 24,50 / 192 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024
Suhrkamp

Damit es vernünftig weitergehen könne, fordert Menasse, müsse etwas betrieben werden, was es in der Geschichte noch nie gegeben habe: "die Entwicklung der ersten nachnationalen Demokratie". Dazu müsste man sich wieder auf die Gründungsverträge besinnen und den Institutionen der EU (Kommission, Parlament, Gerichtshof) endlich die Kompetenzen zukommen lassen, die ihnen auf dem Papier zugeschrieben sind, und den Einfluss des Europäischen Rats zurückdrängen, in dem sich nicht Europa, sondern nur der kleinste gemeinsame Nenner der einzelnen nationalen Regierungen zu behaupten weiß. Vonnöten wäre also eine tatsächliche umfassende Demokratisierung, die "Jedermann" nützlich sei. Ist das Wunschdenken oder realistisch?

Ergebnis einer Utopie

"Die EU", schreibt Menasse, "ist das vorläufige reale Ergebnis einer konkreten Utopie, eines Blicks in die Welt von morgen, in eine Zukunft, auf der Basis von historischen Erfahrungen und von Gestaltungswillen." Im Augenblick ist die EU etwas "Halbfertiges" und entwickle sich scheints in die falsche Richtung: "weit fort vom Zauber der Anfänge, fort von den Ideen und Idealen der Gründergeneration, fort von der hellsichtigen konkreten Utopie des europäischen Einigungsprojekts".

Anders gesagt: Jene politischen Kräfte, die die EU zurückschrauben wollen auf eine lose Verbindung nationaler Staaten, haben den Retourgang eingelegt. Trotzdem ist eine Rückkehr in ein nationales Europa für Menasse nicht mehr denkbar, dafür habe sich inzwischen einfach zu viel verändert. Seine Schlussfolgerung ist dennoch nicht beruhigend: "Der Nationalismus hat keine Zukunft. Aber er kann die vorläufige zerstören."

Genau an diesem Punkt stehen wir. Und hier gilt es, eine klare Trennlinie zu ziehen: auf der einen Seite ein "souveränes demokratisches Europa", auf der anderen "seine Feinde". So lautet auch der – logische – Untertitel des Buches, denn es gibt nur diese zwei Europa: Wem das geeinte demokratische zu liberal ist, der kann sich den Rückfall in unselige nationale Verfasstheit wünschen. Ein Europa der Nationen, wie es die Rechten, Illiberalen und Postfaschisten gerne hätten, möglichst autokratisch und willfährig gegenüber Russland. Das kann man verhindern, wenn man es verhindern will. Und man kann, irgendwann, den "Europäischen Jedermann" Wirklichkeit werden lassen. (Gerhard Zeillinger, 13.4.2024)