Junger Mann mit Strickzeug sitzt auf dem Boden und schaut im Internet nach, wie es funktioniert
Immer mehr Menschen, Frauen und Männer, greifen zu Stricknadeln, über Online-Tutorials kann man lernen, wie es geht. Die repetitive Tätigkeit mit den Händen, egal ob beim Stricken, Heimwerken oder Garteln, entspannt und senkt das Demenzrisiko.
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Wenn Ulinde Jaksch zum Stricken aufruft, ist ihr Klassenraum voll. Schülerinnen – und Schüler – treffen sich und erfreuen sich an "Stricken, Häkeln und Knüpfen", wie die Einheit offiziell heißt. Jaksch unterrichtet normalerweise Geografie und Sport an den Berufsbildenden Schulen (BBS) im oberösterreichischen Weyer, Stricken ist ihr langjähriges Hobby. Das bietet sie im Zuge der Projektstunden an, "das sind Einheiten, in denen die Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Angeboten frei wählen können".

Jaksch wollte Abwechslung zu ihren üblichen Fächern, so entstand das Handarbeitsangebot. "Meine eigene Tochter hat mir bestätigt, dass es da gerade einen Riesentrend gibt. Und tatsächlich sind die Stunden immer gut besucht. Auch zwei Burschen kommen regelmäßig und sind ganz begeistert." Das gleichmäßige Dahinarbeiten gefällt den Schülerinnen und Schülern – und dass am Ende der Stunde etwas Greifbares entstanden ist.

Was die Jugendlichen zum oft als spießig verschrienen Handarbeiten treibt, bestätigt auch die Forschung. Stricken regt das Entspannungssystem des Körpers an, den Vagusnerv, es sorgt für ein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Außerdem tut es der Motorik gut, und es befördert die Neuroplastizität des Gehirns. Man muss für all diese Vorteile übrigens nicht zwingend stricken. Man kann auch generell handarbeiten, malen, basteln, schreiben, heimwerken oder im Garten gestalten. Wichtig ist die Arbeit mit den Händen. Doch was steckt da genau dahinter?

Feuernde Gehirnzellen

Arbeitet man mit den Händen, tut das dem Gehirn gut. "Wir sehen, dass Menschen die handwerken, im Garten arbeiten, Journaling betreiben, also vor sich hinschreiben, oder eben handarbeiten, ein geringeres Demenzrisiko haben und generell der kognitive Verfall weniger stark ist", sagt Thomas Klausberger, Neurobiologe und Leiter des Zentrums für Hirnforschung an der Med-Uni Wien. Menschen mit diesen Hobbys haben auch weniger Depressionen und generell weniger Angstproblematik.

Interessanterweise weiß man nicht genau, was dabei konkret im Gehirn passiert, man kann das nicht wirklich zeigen. "Aber das Phänomen ist wissenschaftlich recht gut abgesichert. Allein die Fülle an Studien dazu, die alle zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, bestätigt das", sagt Klausberger. Man weiß aber, dass diese händischen Arbeiten die Neuroplastizität im Gehirn verbessern – und genau daraus dürfte der positive Effekt entstehen.

Doch wie genau geht das vor sich? Neurobiologie Klausberger erklärt: "Die Nervenzellen in unserem Gehirn haben ein Alles-oder-nichts-Aktionspotenzial, das heißt, sie feuern oder sie feuern nicht. Man kann sich das ähnlich vorstellen wie die Kommunikation in einem Computer, je nachdem, ob eine Aktion stattfindet, ist das null oder eins." Das Besondere an unserem Gehirn ist aber, im Unterschied zum Computer, dass die Nervenzellen über Synapsen miteinander verbunden sind. "Und wenn die einzelnen Nervenzellen stärker feuern, merkt das Gehirn, dass hier eine wichtige Handlung stattfindet, und stärkt die entsprechenden Verbindungen. Das ist, als würde man beim Radio die Lautstärke regulieren. Mehr Feuern ist lauter, weniger Feuern ist ganz leise."

Schlüssel und Schloss-Prinzip

Genau das führt zu Neuroplastizität, der Grundlage von Lernen. Manche hatten vielleicht schon ein entsprechendes Aha-Erlebnis: Man beschäftigt sich intensiv mit einem Thema, liest dazu, denkt darüber nach, sammelt unterschiedliche Informationen. Und auf einmal ergibt sich aus all diesen Einzelinformationen ein umfassendes Bild, man entwickelt ein neues Verständnis für ein inhaltliches Thema, wie man ein handwerkliches Problem angeht oder wie man ein kompliziertes Zopfmuster strickt. Stellt man sich das Gehirn als eine Wohnung vor, befinden sich die unterschiedlichen Grundinformationen, die man für etwas benötigt, jeweils in einzelnen Zimmern. Durch die intensive Auseinandersetzung damit bekommt das Gehirn auf einmal einen Schlüssel, der die Verbindungstüren zwischen den Zimmern aufsperrt, es entsteht eine Art zusammenhängende Wohnung, durch die man spazieren kann.

Das Besondere an den handwerklichen Tätigkeiten ist, dass dabei, im Unterschied zu Lesen oder auch Lernen, die Feinmotorik trainiert wird. Klausberger erklärt: "Das ist für das Gehirn eine komplexe Sache, an der viele Bereiche beteiligt sind. Diese Reaktionen werden über das Rückenmark auf die Muskeln übertragen. Wie komplex diese Bewegungsmuster sind, zeigt sich auch daran, dass es zum Beispiel enorm schwierig wäre, würde man einen Roboter dazu programmieren, solche Tätigkeiten auszuführen."

Auf Instagram gibt es jede Menge "Knitfluencer". Sie zeigen ihre Produkte und stellen auch Anleitungen zur Verfügung. Besonders beliebt: skandinavische Designs.
Instagrampost eines Pullovers

Durch das ständige Wiederholen entsteht aber ein gewisser Automatismus im Gehirn, man muss gar nicht mehr darüber nachdenken. Das ist eine weitere Besonderheit beim Arbeiten mit den Händen: "Durch den stark repetitiven Charakter ohne besondere Anstrengung für den Körper, anders etwa als beim Sport, wird die Cortisolausschüttung heruntergefahren, das Gehirn kann in einen anderen Rhythmus verfallen und im Hintergrund verschiedene Dinge und Eindrücke verarbeiten", weiß Klausberger. Dadurch schickt es Signale in den Körper, durch die Blutdruck und Herzschlag herunterreguliert werden, ein Gefühl der Entspannung stellt sich ein.

Vom Plan zum Ergebnis

Doch nicht nur das Gehirn an sich, auch die Psyche profitiert von handwerklichen Hobbys. "Bei der Arbeit mit den Händen kommt es zur kreativen Entfaltung. Der daraus entstehende Selbstausdruck kann das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit stärken", weiß die klinische Psychologin Laura Stoiber. "Außerdem ist man dabei auf den gegenwärtigen Moment fokussiert, das kann zu einem Flowzustand führen, in dem man Zeit und Raum regelrecht vergisst." Der daraus resultierende beruhigende und meditative Effekt reduziert Stress und steigert ganz generell das Wohlbefinden.

Vor allem das Gefühl der Selbstwirksamkeit wird dabei durch zwei Dinge gestärkt. Viele Hobbys erfordern eine gewisse Denk- und Planungsarbeit, man überlegt sich ein bestimmtes Strickmuster, ein Möbelstück, das man baut, oder wie man ein Blumenbeet so bepflanzt, dass es später das Auge erfreut. Jedes Mal, wenn man an dem Projekt arbeitet, kann man außerdem den Fortschritt unmittelbar sehen, es gibt immer ein (Zwischen-)Ergebnis, auch wenn die Arbeit noch nicht fertiggestellt ist. "Dadurch werden Endorphine und Dopamin ausgeschüttet, man hat ein Gefühl der Belohnung und des Wohlbefindens", betont Psychologin Stoiber.

Natürlich kann man ähnliche Erfolge mit Freizeitaktivitäten wie Sport oder Lesen erzielen. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: "Sport hat eine höhere Intensität und kann körperlich anstrengend sein. Das will man nicht immer. Manuelle Hobbys bieten eine meditativere Erfahrung." Lesen wiederum ist entspannend, aber es fehlt das Ergebnis, das Selbstwirksame. Es ist eher eine Fantasiereise im Kopf, die die Imagination beflügelt.

Therapeutisches Potenzial

Aber Handarbeiten oder Heimwerken ist nicht nur entspannend, es steckt auch viel therapeutisches Potenzial drin, betont die Ergotherapeutin Christina Wagner: "Durch eine Erkrankung, einen Schlaganfall etwa, oder einen Unfall kann es passieren, dass man vermeintlich simple Alltagstätigkeiten nicht mehr ausführen kann. Dann bemerken die meisten Menschen erst, welche komplexen Abläufe vermeintlich ganz banalen Tätigkeiten tatsächlich zugrunde liegen." Hier kann ein Hobby helfen, wieder mehr Selbstwirksamkeit zu bekommen.

Wichtig ist dabei, dass man die Tätigkeit auch wirklich gerne macht, es bringt natürlich nichts, jemandem aus Therapiegründen zu Häkeln oder Gartenarbeit zu drängen – das würde maximal das Frustpotenzial steigern, weil man etwas tun soll, das man nicht kann oder nicht mag. Umgekehrt kann ein Wiederaufgreifen eines solchen Hobbys dazu führen, dass man wieder besser fokussieren kann, weiß Wagner: "Es kann beispielsweise nach einem Schlaganfall oder auch bei einer Depression schwer sein, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. Schafft man es dann, eine Stunde lang fokussiert zu stricken, kann man diese Erfahrung mitnehmen und in andere Alltagstätigkeiten einfließen lassen, wie Einkaufen oder Ähnliches."

Übrigens, es ist nie zu spät für so ein Hobby. Studien zeigen, dass die positive Wirkung von Werken mit den Händen sich auch noch im Alter von 60 oder später bemerkbar macht. Wobei: Will man etwas für die eigene Gesundheit tun, fängt man besser heute als morgen an. Umso besser, wenn das dann auch noch Spaß macht. (Pia Kruckenhauser, 27.4.2024)